- Literaturnobelpreis 2001: Vidiadhar Surajprasad Naipaul
- Literaturnobelpreis 2001: Vidiadhar Surajprasad NaipaulDer in Trinidad geborene britische Schriftsteller wurde für »seine Werke, die hellhöriges Erzählen und unbestechliches Beobachten vereinen«, ausgezeichnet.Sir (seit 1990) Vidiadhar Surajprasad Naipaul, * Chaguanas (Trinidad) 17. 8. 1932; 1950 Studium in Oxford, 1953 Bachelor of Arts, danach freier Mitarbeiter der BBC, London, und Journalist. 1957 erste Romanveröffentlichung (»Der mystische Masseur«), Reisen u. a. nach Indien, Afrika, Lateinamerika. Lebt seit 1950 in Wiltshire (England); 1971 Bookerpreis.Würdigung der preisgekrönten LeistungVor seiner Ehrung mit dem Nobelpreis hatte V. S. Naipaul mehr als zwanzig Werke veröffentlicht und zahlreiche literarische Preise erhalten. Ferner war er mit mehreren Ehrendoktortiteln ausgezeichnet und von Königin Elisabeth geadelt worden. Über die Verleihung des Nobelpreises für Literatur zeigte sich Naipaul jedoch ebenso überrascht wie beglückt. Er erklärte, dass der Preis für ihn eine Ehrung Indiens, der Heimat seiner Vorfahren, sowie seiner Wahlheimat England bedeute.Literarischer WeltumseglerNeben Naipaul waren unter anderen die Schriftsteller Norman Mailer, Joyce Carol Oates und Astrid Lindgren heiße Anwärter auf den Nobelpreis. Naipaul, der mit einer Muslimin pakistanischer Herkunft verheiratet ist, wurde oft religiöser Intoleranz bezichtigt. Vor allem seitens der islamischen Welt erntete er harte Vorwürfe wegen seiner Kritik am Fundamentalismus. Seine Ehrung wurde in Anbetracht der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York nicht nur als literarische, sondern auch als politische Aussage gewertet.Das Nobelkomitee fügte dem möglicherweise ausschlaggebenden Anlass jedoch eine umfassendere Begründung hinzu. Naipaul wurde, so ein Mitglied der Jury, für »sein Gesamtwerk ausgezeichnet, das das eines westlichen Rationalisten in der Tradition von Voltaire verkörpert, der vor allen Kirchen, Dogmen und Glaubensrichtungen warnt, die die Vernunft und die Selbstkritik unterdrücken«. In dieser Eigenschaft kritisierte Naipaul nicht nur den Islam, sondern alle ihm bekannten Kulturräume gleichermaßen. Er gilt als scharfsichtiger Beobachter gesellschaftlicher Schwächen, vor dessen scharfer und nicht selten zynischer Feder kaum eine Zeiterscheinung sicher ist. Das Komitee zeichnete Naipaul nicht nur für seine literarischen Werke aus, sondern auch »als Reporter unserer Zeit, der sich als unkorrumpierbarer Beobachter durch die Gesellschaften bewegt«.Die Schwedische Akademie hob Naipauls Meisterwerk »Das Rätsel der Ankunft« hervor, da der Autor darin »ein unbeschönigendes Bild des stillen Zusammenbruchs der alten herrschenden Kolonialkultur und den Verfall des europäischen Einflusses« zeichne. Sie kennzeichnete ihn als einen »literarischen Weltumsegler, der eigentlich nur bei sich selbst wirklich zu Hause ist, in seinem einzigartigen Ausdruck«. Lobenswert sei, dass er sich von keiner modischen Strömung habe beeinflussen lassen und die bereits existierenden Genres in seine eigene Schreibweise umgeformt habe. Die herkömmlichen Abgrenzungen zwischen Fiktion und Prosa seien in seinen Romanen von nebensächlicher Bedeutung.Vertrautheit und DistanzAls Enkelkind indischer Emigranten aus Uttar Pradesh wurde V. S. Naipaul auf der westindischen Insel Trinidad, einer ehemaligen britischen Kolonie, geboren. Dort gehörte er weder zur schwarzen Mehrheit noch zur herrschenden weißen Minderheit, sondern war Angehöriger einer Randgruppe. Von seinen Eltern wurde er im hinduistischen Glauben erzogen. Als junger Mann verließ er seine Heimat Ð ein Stipendium ermöglichte es ihm, am University College im englischen Oxford zu studieren.Nach seiner Zeit in Oxford lebte Naipaul in London, wo er sich isoliert und fremd fühlte: »Ich war eingeschlossen in eine kleinere Welt als je zuvor«. Das Gefühl der Fremdheit und Isoliertheit war für ihn die Quelle seines Unbehagens, aber auch die seiner Kunst. Mit 22 Jahren begann er zu schreiben. Seine ersten Bücher entstanden in rascher Abfolge und spielen in Westindien. Sie waren der Versuch, sich selbst zu verstehen, die eigene Identität auszumachen. Naipaul wurde entscheidend durch seinen Vater geprägt. Dieser hatte sich oft als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen müssen, ehe er sein Geld als Reporter bei der Zeitung »Trinidad Guardian« verdienen konnte. Er schrieb Kurzgeschichten, die der Sohn später als eine Hommage an ihn veröffentlichen ließ. Naipauls jüngerer Bruder Shiva ist übrigens ebenfalls Schriftsteller geworden.Naipaul unternahm zahlreiche ausgedehnte Reisen nach Südamerika, Indien und Afrika, die er später in seinen Werken verarbeitete. Seit den 1970er-Jahren lebt er zurückgezogen in England und widmet sich ausschließlich der Schriftstellerei. Seine emotionale wie geographische Distanz war Voraussetzung für seine Literatur. »Man muss einen gewissen Abstand zwischen sich und seinen Erfahrungen haben, um sie gut verwerten zu können. Ich kann nur über einen Ort schreiben, an dem ich mich nicht mehr aufhalte. Die Erfahrung muss abgeschlossen sein, und ich muss die Möglichkeit haben, zurück zu schauen.« Naipaul, der nicht mehr in sein Heimatland zurückkehrte, prangert die Kulturlosigkeit seiner westindischen Heimat an. »Geschichte gestaltet sich um Errungenschaft und schöpferische Hervorbringung, und Westindien hat nichts hervorgebracht«.Humor und ZynismusNaipauls Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Reiseberichte und historische Werke, die er auf Englisch geschrieben hat. Sein erster Roman, »Der mystische Masseur«, entstand 1957. Es handelt sich um eine humorvolle Schilderung des Volkslebens. Sein zweites Buch, »Wahlkampf auf karibisch«, ist eine Satire auf die postkoloniale Gesellschaft und deren Zusammenbruch.1961, im Alter von 29 Jahren, vollendete Naipaul einen seiner bedeutendsten Romane, »Ein Haus für Mr. Biswas«, eine Familienchronik. Aus der Perspektive seines Vaters zeichnet er eine Reise durch die Gesellschaft Trinidads nach. Die Reise ist nichts anderes als die Suche nach Unabhängigkeit und einer Identität. Der Autor bezeichnete diesen Roman als »große Brücke« von der Lehrzeit zur Reife. »Der Mann, der dieses Buch begann, unterscheidet sich sehr von dem, der es beendete«.Sind Naipauls frühe Werke von einem humorvollen Geist durchdrungen, so lassen die späteren einen Zynismus spüren, der teils ironische, teils pessimistische Züge trägt. Während die Länder der Dritten Welt seines Erachtens alles vermissen lassen, was der Menschheit zur Ehre gereicht, wohnt der Ersten Welt große Destruktivität inne: Hier werde der Mensch zum Architekten seiner eigenen Zerstörung. Die Gegenstände seiner Gesellschaftskritik sind geographisch und thematisch vielfältig. Der Roman »Guerrillas« etwa spielt in einem imaginären karibischen Land, das von Aufruhr und Zersetzung gezeichnet ist. Die Geschichte basiert teilweise auf dem authentischen Fall des Michael X, einem schwarzen Radikalen aus Trinidad, der 1975 wegen Mordes hingerichtet wurde. In anderen Büchern setzt sich Naipaul mit Indien, dem Islam und Afrika auseinander, einem »traumartigen und bedrohlichen Ort«, der sich der westlichen Vernunft nicht erschließe. »Eine islamische Reise« (1981) wirft einen Blick auf die arabischen Länder, »Beyond Belief« (englisch; Jenseits des Glaubens, 1998) beschäftigt sich mit den nicht-arabischen islamischen Ländern. In allen aber meint Naipaul bei den Fundamentalisten einen Imperialismus zu entdecken, der dem westlichen zumindest ebenbürtig und nicht weniger zerstörerisch ist.A. Schleipen
Universal-Lexikon. 2012.